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“Stadt der 1000 Feuer”

Gastbeitrag von Ludwig Schönefeld

2025 feiert Gelsenkirchen den 150. Jahrestag der Stadtwerdung. Zahlreiche Veranstaltungen des Jubiläumsjahres stehen unter dem Titel „Stadt der 1000 Feuer“. Wie kam die Stadt zu diesem Beinamen? Ludwig Schönefeld ging auf Spurensuche:

Titelseite der “Heimatblätter für das Industriegebiet” und Postkarte aus dem Heinrich Koch Verlag, Essen. Sammlung Ludwig Schönfeld..

Als Standort wichtiger Bildungseinrichtungen, zu denen neben der 1992 gegründeten Westfälischen Hochschule insbesondere auch der aus der Internationalen Bauausstellung Emscher Park 1999 hervorgegangene Wissenschaftspark Gelsenkirchen gehört, hat sich Gelsenkirchen in den vergangenen 25 Jahren ein neues, modernes Image erarbeitet. Dennoch ist die Identität der Stadt nach wie vor auch und untrennbar mit ihrer Historie als Kohle- und Stahlstandort verbunden. Im kollektiven Gedächtnis, in der Vereinshymne des FC Schalke 04 und sogar in aktueller Graffiti-Kunst hat sich das Bild der Stadt der tausend Feuer bis heute erhalten.

Wie und wo aber ist der Namenszusatz entstanden?

Einen ersten Hinweis gibt das Vorwort der 1927 vom damaligen Gelsenkirchener Oberbürgermeister Carl von Wedelstaedt im Kommunalverlag herausgegebenen Monografie Die Stadt Gelsenkirchen. Damals bezeichnete sich Gelsenkirchen als Stadt der hundert Schächte oder auch als Stadt der Kohle und des Eisens. Richtig zufrieden war von Wedelstaedt damit wohl nicht, insbesondere, weil Besucher unter dem ersten Eindruck leicht geneigt seien, „zwar sowohl die überwältigende Größe neuzeitlicher Werkarbeit anzuerkennen, aber umso mehr ihre unangenehmen Begleiterscheinungen entschieden zu betonen.“

Nicht nur mit der im Kommunalverlag publizierten Monografie war es der Stadt ein Anliegen „die Lichtseiten Gelsenkirchens neben den zweifellos vorhandenen Schatten“ zum Ausdruck zu bringen. Mit anderen Worten: die Stadt war auf der Suche nach einem positiv besetzten, starken Claim.

Das Land der tausend Feuer

Das Bild der 1000 Feuer war zu diesem Zeitpunkt bereits besetzt: Im Januar 1921 veröffentlichte Ferdinand Schmidt, der in der Essener Margarethenhöhe lebende Herausgeber der Heimatblätter – Monatsschrift für das niederrheinisch-westfälische Land, besonders für das Industriegebiet ein Sonderheft unter dem Titel Das Land der tausend Feuer. Der Titel bezog sich auf ein von nationalem Pathos getragenes Gedicht von Adolf Potthoff. Darin beschrieb der in Eickel lebende spätere Gymnasiallehrer in blumigen Worten seine Heimat und die Menschen im Revier.

Heimatblätter für das Industriegebiet, 1921.
Sammlung Ludwig Schönefeld

1924 griff der Duisburger Mittelschullehrer Bernhard Zytur den Titel für seine im Diesterweg-Verlag, Frankfurt am Main, verlegte Broschüre Das Land der tausend Feuer, Dichtungen aus Bergbau und Industrie auf. Sie erschien als Band 1 der neuen Reihe Hellwegbücher. Im Vorsatz zitierte er das 2021 in den Heimatblättern erschienene Gedicht von Adolf Potthoff und verhalf diesem damit zu weiterer Popularität.

Heimatblätter für das Industriegebiet, 1921.
Sammlung Ludwig Schönefeld

Weitere vier Jahre später werden die 1000 Feuer der Stadt Gelsenkirchen zugeordnet, soweit derzeit recherchierbar, erstmals in einem am 4. August 1928 erschienenen Bericht der Gelsenkirchener Zeitung über einen Flugtag in Gelsenkirchen-Buer.

Bernhard Zytur veröffentlichte im Band 1 der im Verlag von Moritz Diesterweg erschienenen Hellwegbücher 1924 eine Auswahl von Radierungen und Gedichten zum Werden des Ruhrgebiets.
Sammlung Ludwig Schönefeld

Essen oder Gelsenkirchen

Bereits Potthoff hatte in seinem Gedicht Das Land der tausend Feuer mit fantasiereichen Umschreibungen auf Räder der Fördertürme und die Feuerschlangen in den Schlackenringen der Hochöfen Bezug genommen. Auch für Duisburg, Essen, Bochum und Dortmund hätte das Bild der Stadt der 1000 Feuer gepasst. Recherchen in der vom Land Nordrhein-Westfalen geförderten Zeitungsdatenbank zeitpunkt.nrw ergaben, dass das Attribut Stadt der 1000 Feuer 1926 tatsächlich zunächst Essen zugeordnet wurde, so beispielsweise im Mai 1926 anlässlich des Sozialen Verbandstages katholischer Jungmännervereine Deutschlands oder auch noch am 27. April 1931 im Zusammenhang mit der Gerätemeisterschaft der Deutschen Turnerschaft.

Wenige Tage zuvor, am 18. April 1931, hatte die im Segelflug engagierte, zeitgleich neu gegründete Borkenberge-Gesellschaft bei einer Festveranstaltung im Hans-Sachs-Haus ihre in der Gelsenkirchener Gewerbeschule gebaute Hochleistungssegelmaschine auf den Namen „Gelsenkirchen – die Stadt der tausend Feuer“ getauft. Über den Anlass wurde in den Gelsenkirchener Zeitungen breit berichtet.

Entscheidung aus dem Äther

In den folgenden Monaten reklamierte die Lokalpresse die Stadt der 1000 Feuer immer häufiger für Gelsenkirchen. Einen Höhepunkt erreichte die Berichterstattung im Zusammenhang mit einer am 22. November 1931 von der Westdeutschen Rundfunk AG (WEDAG) in der Reihe Unsere Städte in Rheinland und Westfalen ausgestrahlten Funkreportage Hörbild Gelsenkirchen. Die Gelsenkirchener Zeitung griff das Ereignis in einem fast ganzseitigen Bericht auf: „22 Riesenbetriebe der Eisen- und Stahlindustrie mit normal 25.000 Arbeitskräften, 68 Großbetriebe mit 18.000 Menschen, über 8.500 Kleinbetriebe – das ist die gigantische wirtschaftliche Kraft Gelsenkirchens, dieser Stadt der tausend Feuer.“ Auch der Kommentator der Buerschen Zeitung stellte in seiner am Tag darauf erschienene Kritik dazu fest: „Wir Menschen aus der Stadt der tausend Feuer können mit dem Bericht zufrieden sein.“ Spätestens jetzt war der Namenszusatz Stadt der tausend Feuer als Synonym für Gelsenkirchen etabliert.

Ein Jahr später berichtete der Westdeutsche Rundfunk erneut über die Stadt, dieses Mal am 27. Februar mit einer Übertragung aus dem großen Saal des Hans-Sachs-Hauses. Der bekannte Rundfunksprecher Gustav Jacoby brachte, so berichtete die Buersche Zeitung am 29. Februar 1932 „mit viel Witz und Schärfe die kommunalpolitischen Schwächen und Stärken der zusammengeschweißten Städte Gelsenkirchen, Buer und Horst den vielen Tausend mithorchenden Rundfunkhörern zur Kenntnis. Er nannte Gelsenkirchen die Stadt der tausend Feuer, was ja nicht ganz neu sein soll und teilte mit, daß man in Berlin der Ansicht sei, daß Gelsenkirchen bei Schalke 04 läge.“

Tausend Feuer – Tausend Freunde

Tatsächlich spielt auch der Text der Vereinshymne des 1924 aus dem TuS Schalke 1877 hervorgegangenen Fußball-Clubs Schalke 04 mit dem Motiv der tausend Feuer. Die aktuelle Fassung von Blau und Weiß, wie lieb´ich dich wurde 1959 von Hans. J. König geschrieben. Bis heute heißt es dort: „Tausend Feuer in der Nacht, haben uns das Glück gebracht. Tausend Freunde, die zusammenstehn, dann wird der FC Schalke niemals untergehn“.

Missbrauch durch das NS-Regime

Nach der Machtergreifung machten sich die Nationalsozialisten den mit dem Zusatz Stadt der tausend Feuer verbundenen Stolz der Gelsenkirchener zunutze. Immer häufiger reklamierten sie das Attribut für ihre Zwecke, um die sozialdemokratisch oder kommunistisch organisierte Arbeiterschaft für den Nationalsozialismus zu gewinnen. Den Höhepunkt erreichte dieser propagandistische Missbrauch 1936, als der damalige Gauleiter Alfred Meyer den in Gelsenkirchen stattfindenden Gauparteitag für Westfalen-Nord unter den Titel Gelsenkirchen, die Stadt der 1000 Feuer stellte. Um diese Zeit erschien auch die im Heinrich Koch Verlag, Essen, verlegte Postkarte mit dem Zusatz „Gruß aus Gelsenkirchen – Stadt der 1000 Feuer“.

1940 erschien im Essener Heinrich Koch Verlag diese Mehrbildkarte mit Motiven aus Gelsenkirchen.
Sammlung Ludwig Schönefeld  

Im Wirtschaftswunder

In den 1950er- und 1960er-Jahren wurde der Namenszusatz trotz der Inanspruchnahme durch die Propaganda des Nationalsozialismus wieder aufgegriffen, nicht nur in der Hymne des FC Schalke 04. Auch durch die Lokalpresse: Die Westfälische Rundschau beispielsweise schrieb am 9. Mai 1950 für einen Artikel über den Einbau des von Franz Marten entworfenen Glasbildes in die Fassade des Gelsenkirchener Hauptbahnhofs den folgenden Vorspann: „Gestern wurde am und im Gelsenkirchener Hauptbahnhofsgebäude mit dem Aufbau eines Gerüstes an den alten Frontalfenstern der Empfangshalle begonnen. Damit haben die Arbeiten zur Anbringung der großen Glasfenstergruppe begonnen, die als malerisches Symbolwerk künftig jeden Reisenden, der durch den Gelsenkirchener Hauptbahnhof die Stadt der tausend Feuer betritt, künstlerisch und eindrucksvoll auf die wirtschaftliche Bedeutung der großen Zwei-Ufer-Stadt an der Emscher hinweisen werden.“

Auch die Stadt griff das Bild der tausend Feuer wieder auf. Am 17. Dezember 1950 erlebt der von der Stadt Gelsenkirchen bei der Hamburger Burg-Film Produktion GmbH in Auftrag gegebene, zwölfminütige Kulturfilm Stadt der tausend Feuer in der Schauburg seine Uraufführung. In der 1955 erschienenen Publikation Gelsenkirchen – Abbild einer großen Stadt zeichnet sodann der damalige Oberstadtdirektor Hans Hülsmann im Zusammenhang mit der Nordwanderung des Steinkohlebergbaus das Bild der Tausendfeuerstadt im Grünen als Brücke zum Neuen Revier im Norden.

Stolz und Lebensgefühl

2011 gab es nach einem Beschluss des Landtages NRW zur Änderung der Gemeindeordnung eine letztlich nicht weiterverfolgte öffentliche Debatte dazu, ob Gelsenkirchen nunmehr auf dem Ortschild mit dem Zusatz „Stadt der 1000 Feuer“, „Gelsenkirchen – Knappstadt“, „Gelsenkirchen – Solarstadt“ oder – wie vom Regionalverband Ruhr vorgeschlagen – „Metropole Ruhr“ werben solle, um die Identifikation der Bürger mit Stadt und Region zu fördern. Das Institut für Stadtgeschichte Gelsenkirchen übernahm den Claim 2020 als Titel für das Buch Die Stadt der tausend Feuer. Gelsenkirchen in den 50er-Jahren. 2021 finanzierte die kommunale Stadterneuerungsgesellschaft Gelsenkirchen das von 15 Künstlerinnen und Künstlern gestaltete Graffiti „Gelsenkirchen – Stadt der tausend Feuer“ an der Ecke Schernenweg / Kurt-Schumacher-Straße, unweit der Haltestelle Bergmannsheil der Straßenbahnlinie 302.

So wie in den 1920er-Jahren, als die Journalisten der lokalen Tageszeitungen die Formulierung in das kollektive Bewusstsein der Menschen in Gelsenkirchen einbrachten, sprechen die tausend Feuer offenbar nach wie vor den Stolz und das Lebensgefühl der Gelsenkirchener an. Die vorübergehende Besetzung durch die NS-Propaganda macht den damit verbundenen Missbrauch gleichwohl nicht ungeschehen.

Identität im multikulturellen Miteinander

Das Wissen darum und der kritische Umgang mit der Geschichte der Stadt im 20. Jahrhundert erlauben es, mit der Stadt der tausend Feuer heute die guten und positiven Aspekte zu verbinden: das Engagement der Bürgerinnen und Bürger im Zusammenhang mit dem Wiederaufbau von Stadt und Industrie, den wirtschaftlichen Wohlstand der Nachkriegszeit und die Kraft, das Image der Stadt in einem herausfordernden weltpolitischen Umfeld kontinuierlich weiterzuentwickeln. Gelsenkirchen ist ein Ort, in dem rund 265.000 Einwohner in einem multikulturell geprägten Gemeinwesen zusammenleben und sich dank unterschiedlicher Herkunft und Weltanschauung gegenseitig ergänzen.

Ludwig Schönefeld, Jahrgang 1964, geboren in Gelsenkirchen und aufgewachsen in Bochum, ist ein profunder Kenner der Regional- und Verkehrsgeschichte des Ruhrgebiets. Auf eine Ausbildung bei einer Tageszeitung in Dortmund folgte das Studium der Sozialwissenschaften, Geschichte und Literaturwissenschaft an der Universität Hagen. Nach einer beruflichen Laufbahn in der Unternehmenskommunikation sowie im Management internationaler Industriekonzerne ist Ludwig Schönefeld aktuell als Autor zur Verkehrsgeschichte des Ruhrgebiets sowie als Gastkurator des Ruhr Museums tätig. Als Historiker steht er in der Tradition der Oral History-Bewegung und legt deshalb großen Wert auf den Austausch mit Zeitzeugen, Heimatvereinen und kommunalen Archiven.


OpenEdition schlägt Ihnen vor, diesen Beitrag wie folgt zu zitieren:
plenz (4. März 2025). “Stadt der 1000 Feuer” GE:schichte. Abgerufen am 12. Mai 2025 von https://doi.org/10.58079/13eyz


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